Komplexes Leben entstand viel früher als bisher angenommen

Geschrieben am 08.12.2025
von Andreas Müller

Bristol (Großbritannien) – Aufsehen in der Evolutionsforschung: Laut einer aktuellen Studie entstand komplexes Leben auf der Erde deutlich früher als bislang angenommen, zudem über einen wesentlich längeren Zeitraum hinweg als bislang gedacht. Die Forschungsergebnisse stellen gleich mehrere etablierte Lehrmeinungen zur Entstehung höherer Lebensformen infrage.

Symbolbild.Copyright: Dr. Christopher Kay
Symbolbild.
Copyright: Dr. Christopher Kay

Wie das internationale Team um Dr. Christopher Kay von der University of Bristal aktuell im Fachjournal „Nature“ (DOI: s41586-025-09808-z) berichtet, haben sie die bisher umfassendste zeitliche Rekonstruktion der Entstehung sogenannter eukaryotischer Zellen vorgelegt – also jener komplexen Zellformen, aus denen alle Tiere, Pflanzen, Pilze und Algen hervorgegangen sind. Bisher galt die Annahme, dass die Entstehung komplexen Lebens eng an den Anstieg des atmosphärischen Sauerstoffs gekoppelt war. Genau dieses Dogma wird nun erschüttert.

Die Erde ist rund 4,5 Milliarden Jahre alt. Erste mikrobielle Lebensformen tauchten bereits vor mehr als 4 Milliarden Jahren auf. Diese frühen Organismen gehörten zu zwei Gruppen: Bakterien und Archaeen. Diese sogenannte Prokaryoten dominierten den Planeten über viele Hundert Millionen Jahre hinweg, bevor komplexere Lebensformen entstanden.

Erst später entwickelten sich daraus die Eukaryoten – Zellen mit Zellkern und innerer Struktur, aus denen letztlich alle vielzelligen Organismen hervorgingen. Wann genau dieser fundamentale Übergang stattfand, war bislang jedoch weitgehend Spekulation. Fossile Übergangsformen fehlen, und frühere zeitliche Schätzungen schwankten um bis zu eine Milliarde Jahre.

Neue Methode bringt erstmals belastbare Zeitachse

Das Forschungsteam nutzte eine weiterentwickelte Form der sogenannten „molekularen Uhr“. Diese Methode erlaubt es, anhand genetischer Veränderungen abzuschätzen, wann sich Evolutionslinien voneinander getrennt haben. Neu an der jetzigen Studie war jedoch die Kombination von mehr als hundert Genfamilien aus Hunderten von Arten mit gesicherten Fossildaten.

Auf dieser Basis konnten die Wissenschaftler erstmals einen zeitlich aufgelösten Stammbaum des Lebens erstellen – mit einer nie dagewesenen Präzision. So gelang es, die einzelnen Entwicklungsschritte auf dem Weg zu komplexen Zellen deutlich genauer einzugrenzen.

Das wohl brisanteste Ergebnis der Studie: Die Entwicklung komplexer Zellstrukturen begann offenbar bereits vor rund 2,9 Milliarden Jahren – also fast eine Milliarde Jahre früher als in manchen bisherigen Modellen. Besonders überraschend: Zentrale Merkmale der Eukaryoten, darunter der Zellkern und andere innere Strukturen, entstanden offenbar lange vor dem Auftreten der Mitochondrien.

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Mitochondrien gelten als die „Kraftwerke“ der Zellen und spielen eine Schlüsselrolle im sauerstoffabhängigen Stoffwechsel. Bisher nahm man an, dass ihre Entstehung am Anfang der Entwicklung komplexer Zellen stand. Die neuen Daten sprechen jedoch für das Gegenteil: Erst entwickelte sich strukturelle Komplexität – und erst deutlich später kamen die Mitochondrien hinzu.

Neues Evolutionsmodell: CALM

Aufgrund dieser Befunde mussten die Forscher mehrere bisher verbreitete Theorien zur sogenannten Eukaryogenese verwerfen. Keine der bestehenden Hypothesen passte vollständig zu den neuen Daten. Stattdessen schlägt das Team ein neues Modell vor: das Complex Archaeon, Late Mitochondrion, kurz: CALM.

Demnach ging der direkte Vorfahr aller Eukaryoten aus einer bereits hoch entwickelten Archaeenzelle hervor, die schon über komplexe innere Strukturen verfügte. Die Aufnahme der Mitochondrien erfolgte demnach erst deutlich später und parallel zum ersten nennenswerten Anstieg des atmosphärischen Sauerstoffs.

Besonders bemerkenswert: Die frühe Phase der Komplexitätsentwicklung fand offenbar in einer vollständig sauerstofffreien Umwelt statt. Die Ozeane der Erde waren zu dieser Zeit anoxisch – also ohne freien Sauerstoff. Dennoch entwickelten sich dort bereits jene strukturellen Grundlagen, aus denen später alles komplexe Leben hervorging.

Damit rückt die Evolution in eine völlig neue Perspektive: Komplexität entsteht offenbar nicht erst unter „komfortablen“ Umweltbedingungen, sondern kann sich auch unter extremen geochemischen Verhältnissen entwickeln.

Verbindung zwischen Biologie und Erdgeschichte

Die zeitliche Übereinstimmung zwischen dem späten Auftreten der Mitochondrien und dem ersten großen Sauerstoffanstieg in der Atmosphäre verknüpft erstmals direkt die molekulare Evolution komplexer Zellen mit der geochemischen Geschichte des Planeten. Die Evolution komplexen Lebens war demnach kein plötzlicher Umbruch, sondern ein extrem langwieriger Prozess über fast eine Milliarde Jahre.

Die Studie zwingt die Evolutionsbiologie zu einer grundlegenden Neubewertung: Komplexes Leben entstand deutlich früher, langsamer und unter völlig anderen Umweltbedingungen als bisher angenommen. Der klassische Ablauf – erst Sauerstoff, dann komplexe Zellen – wäre somit nicht mehr haltbar. Stattdessen zeigt sich ein Bild einer schrittweisen, kumulativen „Komplexifizierung“, die lange vor der sauerstoffreichen Atmosphäre einsetzte und erst später durch die Mitochondrien energetisch verstärkt wurde.

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Recherchequelle: University of Bristol

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