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– Der folgende Artikel des Anthropologen Prof. Dr. Carl Lipo von der Binghamton University, State University of New York erschien am 26. November 2025 im englischsprachigen Original unter dem „Drones, physics and rats: Studies show how the people of Rapa Nui made and moved the giant statues – and what caused the island’s deforestation“ auf TheConversation.com unter der Lizenz Creative Commons und wurde von GrenzWissenschaft-aktuell.de (GreWi) mit Einwilligung des Autors ins Deutsche übersetzt.
Rapa Nui, auch bekannt als Osterinsel, wird in der Populärkultur oft als ein Rätsel dargestellt. Der Grund liegt auf der Hand: Die kleine, abgelegene Insel im Pazifik besitzt fast 1.000 gewaltige Statuen – die Moai. Die Größe und Zahl dieser Monumente entziehen sich einfachen Erklärungen.
Seit europäische Schiffe diese Steingiganten im 18. Jahrhundert erstmals sahen, haben Außenstehende die Insel als grundsätzlich geheimnisvoll bezeichnet, möglicherweise jenseits dessen, was Archäologen erklären können. Diese Zuschreibung ist Teil ihrer Berühmtheit. Reiseanbieter vermarkten das Unerklärliche. Dokumentationen versprechen ungelöste Rätsel. Populäre Bücher fragen, wie „primitive Völker“ überhaupt 70-Tonnen-Megalithen bewegen konnten.
Archäologische Forscher haben verschiedene Erklärungen für die Statuen vorgelegt, die zwischen 1200 und 1700 geschaffen wurden, aber es gibt bis heute keinen Konsens. Jahrzehntelang boten Experten plausible Szenarien an: mächtige Häuptlinge, die Arbeiter befehligten, elitekontrollierte Steinbrüche, Holzschlitten, die von Hunderten Inselbewohnern gezogen wurden, Rollsysteme, Holzschienen und zeremonielle Wegmarkierungen. Basierend auf autoritativen Behauptungen und überzeugenden Erzählungen wurden diese Darstellungen jedoch selten mit archäologischen Belegen verknüpft.
Ich bin Archäologe und studiere Rapa Nui seit mehr als zwei Jahrzehnten. Anhand jüngst veröffentlichten Forschungsergebnissen glauben meine Kollegen und ich, das Rätsel auf drei wesentliche Arten gelöst zu haben.
Erstens erstellten wir mithilfe von 11.686 Drohnenfotos ein umfassendes, dreidimensionales Modell (s. Titelabb.) von Rano Raraku, jenem Vulkankrater, in dem 95 % der Moai von Rapa Nui gehauen wurden. Es war eine systematische Dokumentation – jede Hangfläche, jede behauene Oberfläche, jedes Produktionselement wurde bis auf den Zentimeter genau erfasst. Das Modell erzeugte Vorhersagen, die wir und andere Forscher testen konnten: Wenn die Produktion zentralisiert gewesen wäre, hätten Werkstätten gruppiert sein müssen; wenn sie hierarchisch gewesen wäre, müssten sich die Ressourcen auf den Ebenen unterscheiden; wenn sie von Eliten diktiert worden wäre, wären die Techniken standardisiert.
Unsere Daten zeigten das Gegenteil: Drohnenbilder zeigen 30 unabhängige Werkstätten, die gleichzeitig arbeiteten. Anstelle einer Organisation von oben nach unten scheinen kleine, clanbasierte Gruppen innovative menschliche Ingenieurstechniken genutzt zu haben.

Frühere Versuche, Rano Raraku zu verstehen, scheiterten nicht, weil der Steinbruch undurchdringliche Geheimnisse barg, sondern aufgrund fehlender veröffentlichter Dokumentation und der Begrenzungen traditioneller Kartierungsmethoden.
Zweidimensionale Karten konnten die dreidimensionalen Beziehungen nicht erfassen. Statuen treten aus Felswänden in verschiedenen Winkeln hervor. Produktionsbereiche überlappen sich vertikal. Behauungssequenzen schneiden sich über die Zeit hinweg. Traditionelle archäologische Methoden lieferten Eindrücke, verpassten aber Details und konnten das System als Ganzes nicht abbilden.
Unser 3D-Modell ändert das. Wir identifizierten 426 Moai in verschiedenen Produktionsstadien, 341 Ausgrabungsgräben, 133 Hohlräume, in denen fertige Statuen entfernt wurden, und zuvor unbekannte Steinbruchbereiche an den Außenseiten. Jede Werkstatt war eigenständig und zeigte Dezentralisierung. Drei unterschiedliche Bearbeitungstechniken treten hervor, was zeigt, dass verschiedene Gruppen unterschiedliche Ansätze nutzten, während sie standardisierte Formen produzierten.

Die „gehenden“ Moai
Zweitens erzeugten wir Daten, um die alte Frage über den Transport der Moai zu klären: Wie bewegten die Rapanui diese megalithischen Giganten? Trotz Jahrzehnten an Versuchen teilten frühere Transporttheorien alle einen fatalen Fehler: Sie machten keinerlei vorhersagbare, keine testbaren Annahmen.
Unsere „Walking“-Hypothese – basierend auf mündlichen Überlieferungen, Ideen unseres Kollegen Sergio Rapu Haoa und getestet vom tschechischen Ingenieur Pavel Pavel – machte hingegen konkrete, testbare Vorhersagen. Wir fanden heraus, dass „Straßen-Moai“, also die Statuen, die entlang der für den Transport gebauten Straßen zurückgelassen wurden, sich morphologisch von jenen unterscheiden, die ihre endgültigen Plattformen, die sog. Ahu, erreichten.
Wir maßen 62 entlang alter Straßen aufgegebene Moai. Diese erwiesen sich als eindeutig: breitere Basen, D-förmige Querschnitte und eine Vorwärtsneigung von 5–15 Grad. Diese Eigenschaften wären unnötig, wenn die Moai horizontal transportiert worden wären. Sie ermöglichen aber den vertikalen Transport – das „Gehen“ der Statuen.
2013 bauten wir eine 4,35-Tonnen-Betonreplik, skaliert nach einem Straßen-Moai. Keine künstlerische Interpretation, sondern eine präzise Reproduktion messbarer Merkmale. Mit 18 Personen und drei Seilen „ging“ die Statue 100 Meter in 40 Minuten.
In unseren aktuell publizierten Forschungsergebnisse belegen wir, dass die Physik bestätigt, was das Bewegen der Replik gezeigt hat: Die Vorwärtsneigung erzeugt ein invertiertes Pendel, das seitliche Bewegungen in Vorwärtsbewegung umsetzt.
Moai, die ihren Ahu erreichten, müssen danach modifiziert worden sein, um stabil aufrecht zu stehen, während Straßen-Moai jene Merkmale behalten hätten, die das „Gehen“ ermöglichten.
Die Verteilungsdaten der Moai lieferten einen weiteren Test: Die Positionen der Straßen-Moai folgen einer exponentiellen Abfallkurve – die Wahrscheinlichkeit, dass eine Statue umstürzt, ist nahe dem Krater am höchsten und nimmt mit der Entfernung ab. Bruchmuster entsprechen vertikalen Aufprallkräften, also Stürzen aus stehender Position.
Unsere testbaren Vorhersagen bewährten sich.
Entwaldung ohne Zusammenbruch
Das dritte „Rätsel“ ist, wie eine fortgeschrittene Gesellschaft ihre Umwelt zerstören konnte. Die Insel war Ende des 17. Jahrhunderts entwaldet. Auch dieses Rätsel ergab sich anhand systematischer Analysen. Hierzu untersuchten wir Daten vorheriger Ausgrabungen. Anstatt Hinweise auf verstärkten Rattenkonsum zu finden, was auf Nahrungsmangel hindeuten würde, nahmen Spuren von verzehrten Ratten im Laufe der Zeit ab, während Meeresfrüchte die Ernährung dominierten.
Eine ökologische Modellierung zeigte, was wirklich passiert sein dürfte: Polynesische Ratten, die mit den ersten Siedlern um 1200 eintrafen, konnten innerhalb weniger Jahre eine Population von Millionen erreichen. Indem sie 95 % der Baumsamen fraßen, verhinderten sie Waldregeneration. Menschen rodeten Land, aber die Ratten machten die Rückkehr der Palmenwälder unmöglich. Die kombinierte Wirkung beschleunigte die Entwaldung innerhalb von fünf Jahrhunderten.
Dies war kein „Ökozid“ – keine absichtliche Selbstzerstörung –, sondern eine unbeabsichtigte ökologische Umgestaltung durch eine eingeschleppte Art. Unsere Forschung zeigte zudem, dass die Rapanui sich anpassten, etwa durch Steinmulch-Landwirtschaft, die Bodenfruchtbarkeit steigerte. Sie aßen weiterhin Meeresfrüchte und bauten noch 500 Jahre nach Beginn der Entwaldung Monumente.
Um die Rätsel von Rapa Nui zu lösen, nutzten wir systematische Dokumentation. Wir formulierten testbare Vorhersagen, sammelten Daten, die uns hätten widerlegen können, und akzeptierten, was die Beweise zeigten. Rapa Nui demonstriert, dass selbst fest verankerte Rätsel methodischer Untersuchung weichen.
– Lesen Sie HIER den Originalartikel in englischer Sprache.
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