Louvain (Belgien) – Von jeher sorgt das sogenannte Turiner Grabtuch – ein Leinen, auf dem Vorder- und Rückseite eines nackten und mit Kreuzigungs-Spuren versehenen Mannes zu erkennen sind, für kontroverse Debatten. Während die einen darin eine der bedeutendsten christlichen Reliquien des Christentums sehen, glauben andere an eine mittelalterliche Fälschung. Historiker haben nun den bislang ältesten Zweifel an der Authentizität des Grabtuchs entdeckt.

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Wie der Reliquienspezialist Dr. Nicolas Sarzeaud von der belgischen Université Catholique de Louvain aktuell im Fachjournal „Journal of Medieval History“ (DOI: 10.1080/03044181.2025.2546884) berichtet, zeigt die Entdeckung, dass schon der normannische Theologe Nicole Oresme (Nikolaus von Oresme) das Grabtuch als Fälschung zurückwies. Der spätere Bischof von Lisieux bezeichnete es als „klar“ und „offensichtlich“ unecht, sowie als das Ergebnis von Täuschungen durch „Geistliche“.
Älteste Zurückweisung des Grabtuchs als Reliquie
Die Studie zeige, so Sarzeaud, dass die von den Historikern Alain Boureau und Béatrice Delaurenti entdeckte Passage in einer Abhandlung Oresmes die bislang älteste bekannte, schriftlich überlieferte, „offizielle“ und hoch angesehene Ablehnung des Grabtuchs darstelle.
Bislang galt der Bericht des Bischofs von Troyes, Pierre d’Arcis, aus dem Jahr 1389 als früheste bekannte, das Grabtuch als echte Reliquie ablehnende Quelle. Arcis hatte das Grabtuch als Fälschung zurückgewiesen und ebenfalls darauf verwiesen, dass schon einer seiner Vorgänger um 1355 ähnlich gehandelt habe.
Einflussreicher Aufklärer

Oresme gilt als einflussreiche Persönlichkeit und war für sein Bemühen bekannt, rationale Erklärungen für sogenannte Wunder und andere Phänomene zu liefern, statt sie als göttlich oder dämonisch einzuordnen. Hierzu bewertete der Bischof Zeugen nach Faktoren wie ihrer Zuverlässigkeit und warnte ausdrücklich vor Gerüchten. Er war zudem einflussreich durch seine Arbeiten über Ökonomie, Mathematik, Physik, Astrologie, Astronomie und Philosophie. Für Sarzeaud unterstreicht dies die enorme Bedeutung des Fundes als „wichtigste historische Zurückweisung des Grabtuchs“.
Oresme schrieb: „Ich brauche niemandem zu glauben, der behauptet: Jemand hat für mich ein solches Wunder vollbracht, weil viele Geistliche auf diese Weise andere täuschen, um Opfergaben für ihre Kirchen zu erlangen. Dies ist eindeutig der Fall für eine Kirche in der Champagne, wo man sagte, dass sich dort das Grabtuch des Herrn Jesus Christus befinde – und für die fast unendliche Zahl derjenigen, die solche Dinge gefälscht haben, und anderes mehr.“
Sarzeaud betont: „Nicole Oresme wählte nicht irgendein verehrtes Objekt als Beispiel für einen von Geistlichen inszenierten Betrug. Er nahm bewusst den Anspruch des Heiligtums von Lirey in der Champagne, das Grabtuch zu besitzen – als besonders eindringliches Beispiel für Lügen der Geistlichkeit.“
Historische Bedeutung
Für Sarzeaud ist damit klar: „Im weiteren Kontext der Geschichte von Reliquien und Andachtsbildern liefert dieser Fall einen ungewöhnlich detaillierten Bericht über einen kirchlichen Betrug – ein Thema, das sonst eher allgemein in Satiren oder theologischen Debatten über die Gefahr abergläubischer Verehrung behandelt wird, aber selten in Form konkreter Anschuldigungen gegen eine kirchliche Institution dokumentiert ist. Oresmes Einschätzung des Grabtuchs führte außerdem dazu, dass er dem Wort der Geistlichkeit insgesamt mit größerem Misstrauen begegnete.
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„Obwohl wir Menschen dieser Epoche oft für leichtgläubig halten, liefert Oresme ein wertvolles Beispiel mittelalterlichen kritischen Denkens“, so der Autor abschließend. „Er prüfte Zeugenaussagen und verwarf Belege, die durch keine echten Beweise gestützt waren – und ich stimme seiner Einschätzung deshalb voll zu. Bemerkenswert ist, dass gerade dieses Grabtuch – von den Tausenden Reliquien jener Zeit – dasjenige ist, das von der mittelalterlichen Kirche am deutlichsten als Fälschung bezeichnet wurde, und dennoch heute die bekannteste Reliquie überhaupt ist.“
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Recherchequelle: Tylor & Francis
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