London (Großbritannien) – Was geschah vor dem Urknall? Diese Frage gilt seit Jahrzehnten als „unwissenschaftlich“ oder gar „sinnlos“. Doch eine aktuelle Studie von Kosmologen des Foundational Questions Institute (FQxI) schlägt nun einen neuen Weg vor: Mittels hochkomplexer Computersimulationen sollen die Grenzen der bisherigen Physik überwunden und Szenarien jenseits der bekannten Gleichungen erforscht werden.

Copyright/Quelle: Gabriel Fitzpatrick für FQxI, FQxI (2025)
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Wie Eugene Lim vom King’s College, Katy Clough von der Queen Mary University und Josu Aurrekoetxea von der Oxford University aktuell im Fachjournal „Living Reviews in Relativity“ (DOI: 10.1007/s41114-025-00058-z) erläutern, müsse zukünftig die sogenannte numerische Relativität stärker in der Kosmologie genutzt werden, um zentrale Fragen zu beantworten. Darunter auch Fragen danach, ob es ein „Vorher“ vor dem Urknall gab, ob wir in einem Multiversum leben oder ob unser Universum bereits mit einem Nachbar-Universum kollidiert ist oder ob es vielleicht sogar Zyklen aus Ausdehnung und Zusammenziehung durchläuft?
Grenzen der klassischen Physik
Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt Gravitation und die Bewegung kosmischer Objekte. Doch rückwärts in der Zeit gerechnet, stößt man auf die kosmische Singularität: einen Zustand unendlicher Dichte und Temperatur, an dem die bekannten Naturgesetze zusammenbrechen. Klassische Lösungswege scheitern hier, ebenso wie beim Studium von Schwarzen Löchern.
Bislang beruhte die theoretische Kosmologie auf vereinfachenden Annahmen: Das Universum sei homogen und isotrop, sehe also in alle Richtungen gleich aus. Diese Näherung funktioniert für das heutige Universum erstaunlich gut und erleichtert viele Berechnungen. Zugleich stellt sich aber auch die Frage, ob dies auch für die Frühphase des Kosmos gilt. „Man kann unter der Straßenlaterne suchen, aber nicht im Dunkeln dahinter“, erklärt Lim. „Numerische Relativität erlaubt uns, über den Lichtkegel hinauszuschauen.“
Von Schwarzen Löchern zum Urknall
Die numerische Relativität, also die Annäherung an Einsteins Gleichungen über Simulationen statt analytische Lösungen, wurde bereits in den 1960er-Jahren entwickelt, ursprünglich um das Verhalten kollidierender Schwarzer Löcher und die dadurch entstehenden Gravitationswellen zu berechnen. Erst 2005 gelang es Forschern, diese Probleme vollständig am Computer zu lösen – eine Grundlage, die später entscheidend für den Erfolg der LIGO-Experimente zur Gravitationswellenmessung wurde.
Nun soll diese Methodik auch auf die größten Rätsel der Kosmologie angewendet werden. Besonders spannend könnte dies angesichts der Fragen um die kosmische Inflation, eine extrem schnelle Ausdehnung des jungen Universums kurz nach dem Urknall, sein. Sie erklärt, warum das All heute so homogen erscheint. Doch warum und wie es überhaupt zu diesem „Wachstumsschub“ kam, ist bis heute unklar. Lim betont: „Ohne Inflation bricht vieles zusammen.“
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Mit numerischer Relativität ließe sich prüfen, welche alternativen Anfangsbedingungen denkbar wären, ohne dass Homogenität und Symmetrie vorausgesetzt werden müssen. So könnte überprüft werden, welche Szenarien aus fundamentalen Theorien wie der Stringtheorie hervorgehen.
Multiversum: Von der Theorie zur Simulation
Weitere Anwendungsgebiete bezeichnen die Forschenden als ebenso faszinierend: Simulationen könnten Aufschluss über hypothetische kosmische Strings geben. Hierbei handelt es sich um dünne, energiereiche „Narben“ im Raum-Zeit-Gefüge, die spezifische Gravitationswellen erzeugen könnten. Auch Kollisionen unseres Universums mit möglichen Nachbar-Universen ließen sich modellieren: Sie würden verräterische „Narben“ oder „Prellungen“ am kosmischen Hintergrund hinterlassen und könnten die Multiversumshypothese stützen.
Darüber hinaus könnte die Methode klären, ob unser Kosmos ein zyklisches Universum ist, so wie es das „Bounce“-Modell beschreibt, in dem sich die Entstehung von Universen in „Big Bangs“ aus vorhergehenden „Big Crunches“ neu entfalten. „Solche Szenarien führen zwangsläufig in extreme Gravitationsbereiche, wo herkömmliche Symmetrien nicht mehr greifen“, erklärt Lim. „Doch genau dort setzen bereits mehrere Forschergruppen an.“
Supercomputer als Schlüssel
Die praktischen Hürden sind gewaltig: Simulationen in der numerischen Relativität benötigen Supercomputer mit enormer Rechenleistung. Doch mit dem Fortschritt moderner Hochleistungsrechner wachsen auch die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, neue Antworten auf die ältesten Fragen der Menschheit zu erhalten.
Lim und sein Team hoffen, dass ihre Arbeit dazu beiträgt, Kosmologen und Numeriker stärker zusammenzubringen. „Wir wollen die Schnittstelle entwickeln, sodass numerische Relativisten ihre Methoden auch auf kosmologische Probleme anwenden können – und Kosmologen wiederum Werkzeuge bekommen, um Fragen zu lösen, die bislang unlösbar schienen.“
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Recherchequelle: Springer, Foundational Questions Institute
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