Experimentalarchäologe segelt wie ein Wikinger und macht unerwartete Entdeckungen

Geschrieben am 22.05.2025
von Andreas Müller

Lund (Schweden) – Seit drei Jahren segelt der Experimentalarchäologe Greer Jarrett auf den Spuren der Wikinger. Durch seine Reise konnte er nachweisen, dass die Wikinger weiter von Skandinavien entfernt segelten und Routen fernab der Küsten wählten – deutlich weiter als bisher für möglich gehalten wurde.

Künstlerische Darstellung seefahrender Wikinger (Illu.).Copyright: Gemeinfrei
Künstlerische Darstellung seefahrender Wikinger (Illu.).
Copyright: Gemeinfrei

Wie der Archäologie-Doktorand von der Universität Lund aktuell im „Journal of Archaeological Method and Theory“ (DOI: 10.1007/s10816-025-09708-6) berichtet, fand er Hinweise auf ein dezentralisiertes Netzwerk von Häfen auf Inseln und Halbinseln, die vermutlich eine zentrale Rolle im Handel und der Fortbewegung der Wikingerzeit spielten.

Rekonstruierte Reisen der Wikinger

In seinem, einem Klinkerboot aus der Wikingerzeit (800–1050 n. Chr.) nachempfundenen Segelboot reiste Jarrett 2022 von Trondheim bis nördlich des Polarkreises und wieder zurück. Seitdem segelten er und sein Team über 5.000 Kilometer entlang historischer Wikingerrouten. Diese Reisen zeigen nun, dass die Routen der Wikinger weiter aufs offene Meer hinausführten, als man bisher dachte.

„Ich kann belegen, dass dieser Bootstyp sich gut auf offener See und unter harten Bedingungen segeln lässt. Aber das Navigieren nah an der Küste und in Fjorden birgt Herausforderungen, die ebenso groß, aber weniger offensichtlich sind – etwa Unterwasserströmungen und Fallwinde von Gebirgshängen“, erklärt Jarrett. Jarrett testete das Boot auch auf der offenen See, unter anderem im Kattegat und in der Ostsee. „Trotz fehlendem Tiefkiel zeigte sich das Boot überraschend stabil.“

Um die konkreten Wikingerrouten zu rekonstruieren, interviewte Jarrett zudem norwegische Segler und Fischer, die noch Routen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert kannten – Zeiten, in denen Segelboote ohne Motor gängig waren.

„Ich kombinierte meine eigenen Reiseerfahrungen mit dem traditionellen Wissen der Seeleute, um mögliche Segelrouten der Wikingerzeit zu rekonstruieren“, berichtet Jarrett.

Geschichten halfen den Wikingern bei der Navigation

Die Wikinger navigierten nicht mit Karten, Kompass oder Sextant, sondern mit sogenannten „mentalen Karten“, bei denen Erinnerungen und Erlebnisse eine zentrale Rolle spielten. Ebenso nutzten sie Mythen, die mit bestimmten Küstenmerkmalen verbunden waren.

„Beispiele sind Wikingergeschichten über die Inseln Torghatten, Hestmona und Skrova vor der norwegischen Küste. Die Erzählungen erinnerten die Seeleute an die Gefahren dieser Orte oder an deren Bedeutung als Navigationspunkte.“

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Diese überlieferten Geschichten sind die letzten Überreste einer Kultur, in der die Landschaft von Erzählungen durchdrungen war. Jarrett bezeichnet dies als eine „maritime kulturelle Gedankenlandschaft“ (maritime cultural mindscape). „Kleine Inseln, Klippen und Riffe waren Teil eines Netzes aus Geschichten, das den Wikingern bei der Navigation half und über Generationen weitergegeben wurde.“

Seefahrten identifizieren Wikingerhäfen

Durch eine Kombination aus direkter Erfahrung mit den Eigenschaften der Boote und der digitalen Rekonstruktion der Landschaft im Wikingerzeitalter hat Greer Jarrett in seiner Studie vier mögliche Wikingerhäfen entlang der norwegischen Küste identifiziert.

„Diese Hafenstandorte liegen weiter draußen auf See als die bisher bekannten großen Hafenstädte und Knotenpunkte. (…) Mit diesem Bootstyp muss es möglich sein, bei allen erdenklichen Windverhältnissen problemlos in den Hafen hinein- und herauszufahren. Es muss mehrere Zufahrtsrouten geben. Flache Buchten sind kein Problem, da die Boote nur einen geringen Tiefgang haben. Aber tief in schmale Fjorde hineinzugelangen ist schwierig – mit Rahsegeln kann man schlecht gegen den Wind kreuzen, und die Boote sind empfindlich gegenüber Fallwinden.“

Die in der Studie erwähnten Küstenregionen zeig die Routen zweier Testfahrten des Projekts (schwarz-weiß gestrichelte Linien), sowie den traditionellen norwegischen Schifffahrtskorridor entlang der Westküste (blau schattiert).Copyright/Quelle: Jarrett, Journal of Archaeological Method and Theory (2025)
Die in der Studie erwähnten Küstenregionen zeig die Routen zweier Testfahrten des Projekts (schwarz-weiß gestrichelte Linien), sowie den traditionellen norwegischen Schifffahrtskorridor entlang der Westküste (blau schattiert).
Copyright/Quelle: Jarrett, Journal of Archaeological Method and Theory (2025)

Jarrett vermutet, dass es in der Wikingerzeit zahlreiche solcher kleinen, leicht zugänglichen Häfen gab – Orte, an denen Seeleute rasten, sich treffen und austauschen konnten: „Meistens wissen wir nur über den Beginn und das Ende von Handelsreisen im Wikingerzeitalter Bescheid – große Häfen wie Bergen und Trondheim in Norwegen, Ribe in Dänemark oder Dublin in Irland. Mich interessiert, was dazwischen passierte. Meine Hypothese ist, dass dieses dezentrale Netzwerk von Häfen auf Inseln und Halbinseln entscheidend dafür war, dass der Handel effizient funktionierte.“

Mast mit Rudern repariert

Jarretts Forschungsfahrten verliefen nicht immer reibungslos. Auf dem Rückweg von den Lofoten im Mai 2022 brach der Mastbaum (Yard), der das Hauptsegel hielt, mitten im Vestfjord – etwa 25 Kilometer vor der Küste: „Wir mussten zwei Ruder zusammenbinden, um das Segel halten zu können, und hoffen, dass es hält. Wir kamen sicher zurück in den Hafen, aber dann mussten wir mehrere Tage lang Reparaturen durchführen, bevor wir weitersegeln konnten.“ Bei einer anderen Reise tauchte plötzlich ein Zwergwal (Minke Whale) in unmittelbarer Nähe des Bootes auf und schlug mit seiner riesigen Schwanzflosse nur wenige Meter entfernt ins Wasser.

Die Abenteuer des Archäologen zeigen schlussendlich auch, wie wichtig zwischenmenschliche Beziehungen auf den Reisen der Wikinger gewesen sein müssen.

„Man braucht ein Boot, das allen Wetterbedingungen standhält. Aber ohne eine Crew, die zusammenarbeitet und sich auch über lange Zeit hinweg erträgt, wären solche Reisen wohl unmöglich gewesen“, Jarrett abschließend.

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Recherchequelle: Lund University

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