Speiseplan der nördlichen Neandertaler war vielfältiger als gedacht

Geschrieben am 04.08.2022
von Andreas Müller

Lesezeit: ca. 3 Minuten Tübingen (Deutschland) – An Knochen, die bei Ausgrabungen aus dem Hohle Fels gefunden wurden, zeigen sich Schlachtspuren, die Rückschlüsse auf das Leben der Neandertaler vor rund 65.000 zulassen. Demnach war der Speiseplan dieser Frühmenschenart auch in Nordeuropa wesentlich vielfältiger als bislang bekannt. Auch diese Erkenntnis trägt dazu bei, ein deutlich vielschichtigeres Bild jener Menschenart zu […]Lesezeit: ca. 3 Minuten
Archivbild: Lebend-Rekonstruktion im Neanderthal-Museum eines Homo sapiens neanderthalensis. Copyright: Neanderthal-Museum, Mettmann

Archivbild: Lebend-Rekonstruktion im Neanderthal-Museum eines Homo sapiens neanderthalensis.
Copyright: Neanderthal-Museum, Mettmann

Tübingen (Deutschland) – An Knochen, die bei Ausgrabungen aus dem Hohle Fels gefunden wurden, zeigen sich Schlachtspuren, die Rückschlüsse auf das Leben der Neandertaler vor rund 65.000 zulassen. Demnach war der Speiseplan dieser Frühmenschenart auch in Nordeuropa wesentlich vielfältiger als bislang bekannt. Auch diese Erkenntnis trägt dazu bei, ein deutlich vielschichtigeres Bild jener Menschenart zu zeichnen, mit der einst auch der moderne Mensch seinen Lebensraum teilte und mit der wir uns nicht zuletzt auch vermischt haben.

„Dass die Neandertaler in der Mittleren Altsteinzeit, vor mehr als 65.000 Jahren, auf der Schwäbischen Alb Großwild wie Rentiere, Wildpferde oder Wollnashörner jagten, gilt als wissenschaftlich gesichert“, erläutert die Pressemitteilung der Universität Tübingen. „Die Jagd auf flinke, wendige Kleintiere wie Schneehühner oder -hasen hingegen wurde den Neandertalern lange nicht zugetraut.“

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Nun aber zeigen die Funde in der zum UNESCO-Welterbe gehörenden Höhle Hohle Fels auf der Schwäbischen Alb nahe Schelklingen, die für das mittlere Europa die bislang besten Belege für solche genau diese Verhaltensweisen und Fähigkeiten: „Auf Vogelknochen fanden sich Schlachtspuren, die von Neandertalern stammen müssen.“

Laufbeinknochen eines Schneehuhns mit Schnittspur aus der Hohle-Fels-Höhle. Quelle/Copyright: urmu / Universität Tübingen

Laufbeinknochen eines Schneehuhns mit Schnittspur aus der Hohle-Fels-Höhle.
Quelle/Copyright: urmu / Universität Tübingen

Wie das Team von Professor Nicholas Conard aus der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen aktuell im Fachjournal „Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg“ berichtet, konnten im Hohle Fels eine größere Menge rund 65.000 Jahre alter Vogelknochen geborgen und untersucht werden, wie sie die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bei einer Pressekonferenz am Dienstag als „Fund des Jahres“ bezeichneten.

„Allein im zehnten archäologischen Horizont (AH X) – einer tieferen Sedimentschicht unterhalb der Fundschichten des modernen Menschen, die anhand von Elektronen-Spin-Resonanz-Datierungen auf ein Alter von rund 65.000 Jahren bestimmt wurde – waren 1.187 Vogelknochen gefunden worden.

Blick in die Höhlenhalle im Hohle Fels. Quelle/Copyright: Jens Burkert / Copyright: Weltkultursprung

Blick in die Höhlenhalle im Hohle Fels.
Quelle/Copyright: Jens Burkert / Copyright: Weltkultursprung

Die meist bruchstückhaft kleinen Knochen stammen von Raufußhühnern, zu denen Schneehühner, Auerhühner und Birkhühner zählen, sowie von Entenvögeln, denen auch Gänse und Schwäne zuzurechnen sind. Insbesondere sechs der Knochen sind etwas Besonderes, da sie eindeutige Werkzeugspuren des Neandertalers zeigen.“

„Die meisten Spuren sprechen dafür, dass Gelenke auseinandergebrochen und Fleisch vom Knochen gelöst wurde“, erläutert Prof. Conard. Während der Großteil der ausgegrabenen Knochen von Raubtieren in die Höhle gebracht worden waren, verraten die sechs Knochen mit den eindeutig menschlichen Schlachtspuren viel über die lang unterschätzte ökologische Anpassungsfähigkeit und die kognitiven Fähigkeiten der Neandertaler, so Prof. Conard weiter: „Wahrscheinlich konnten schon die Neandertaler Vögel jagen, um sich neben dem Fleisch von Pferd, Rentier und anderem Großwild weitere Kalorien- und Nährstoffquellen zu erschließen.“

Das Bild vom Neandertaler als tumbem Höhlenmenschen wandelt sich mit jedem neuen Fund. Hier eine typische Neandertaler-Darstellung von 1923. Copyright/Quelle: J. F. Horrabin / Gemeinfrei

Das Bild vom Neandertaler als tumbem Höhlenmenschen wandelt sich mit jedem neuen Fund. Hier eine typische Neandertaler-Darstellung von 1923.
Copyright/Quelle: J. F. Horrabin / Gemeinfrei

Somit fügen sich die Erkenntnisse aus dem Hohle Fels in eine Reihe von archäologischen Funden der vergangenen Jahre ein, die ein neues Bild der nordeuropäischen Neandertaler erlauben: „Für Südeuropa gelang vor einigen Jahren erstmals der Nachweis, dass die Neandertaler ein größeres Nahrungsspektrum nutzten als bisher bekannt und daher auch gezieltere Jagdstrategien entwickelt haben mussten. Typische Schnitt- und Schabspuren anderenorts legen auch nahe, dass sich Neandertaler mit Vogelfedern und Krallen schmückten.“

Damit müsse die Annahme, dass die Neandertaler aufgrund ihrer mangelnden geistigen Fähigkeiten und ihres eingeschränkten Ernährungsplans ausgestorben seien, revidiert werden, meint Dr. Stefanie Kölbl, geschäftsführende Direktorin des Urgeschichtlichen Museums Blaubeuren (UrMu): „Wir müssen uns vom verbreiteten Bild des muskelbepackten Neandertalers mit einseitiger Vorliebe für Mammutsteaks lösen: Hochintelligente Jagdstrategien, das Bedürfnis nach Schmuck und, wie wir wissen, das Bestatten von Toten – all das weist die Neandertaler als flexible und symbolisch begabte Menschen aus, die weit mehr im Sinn hatten als das blanke Überleben.“

Das UrMu liegt inmitten der Steinzeithöhlen, die von der UNESCO 2017 zum Welterbe „Höhlen und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb“ ernannt wurden. Das Museum für altsteinzeitliche Kunst und Musik in Baden-Württemberg und Forschungsmuseum der Universität Tübingen erklärt das eiszeitliche Leben der Jäger und Sammler am Rand der Schwäbischen Alb vor 40.000 Jahren. Prominentestes Exponat ist das Original der „Venus vom Hohle Fels“. Öffnungszeiten: Di bis So und feiertags, 10 bis 17 Uhr – www.urmu.de




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Recherchequelle: Universität Tübingen

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