Kein Planet der Affen: Schimpansen leben noch vor der Steinzeit

Geschrieben am 20.07.2021
von Andreas Müller

Lesezeit: ca. 3 Minuten Tübingen (Deutschland) – Zwar ist bekannt, dass Menschenaffen Werkzeuge herstellen und nutzen können, doch wie weit diese Kultur bereits fortgeschritten ist, war bislang unklar. Eine aktuelle Studie zeigt nun aber, dass Schimpansen sozusagen noch vor der eigenen Steinzeit leben. „Anders als frühe Menschenarten scheinen Schimpansen nicht in der Lage zu sein, spontan scharfe Steinwerkzeuge herzustellen […]Lesezeit: ca. 3 Minuten
Schimpansen sind dafür bekannt, verschiedene Werkzeuge zu benutzen. Scharfe Steinwerkzeuge gehören jedoch nicht dazu. Copyright/Quelle: Kevin Langergraber / Universität Tübingen

Schimpansen sind dafür bekannt, verschiedene Werkzeuge zu benutzen. Scharfe Steinwerkzeuge gehören jedoch nicht dazu.
Copyright/Quelle: Kevin Langergraber / Universität Tübingen

Tübingen (Deutschland) – Zwar ist bekannt, dass Menschenaffen Werkzeuge herstellen und nutzen können, doch wie weit diese Kultur bereits fortgeschritten ist, war bislang unklar. Eine aktuelle Studie zeigt nun aber, dass Schimpansen sozusagen noch vor der eigenen Steinzeit leben.

„Anders als frühe Menschenarten scheinen Schimpansen nicht in der Lage zu sein, spontan scharfe Steinwerkzeuge herzustellen und zu nutzen, auch wenn ihnen dafür alle Materialien zur Verfügung stehen und ein Anreiz besteht.“ Zu dieser Schlussfolgerung kommt ein Team um Dr. Elisa Bandini und Dr. Alba Motes-Rodrigo von der Universität Tübingen im Rahmen des von Dr. Claudio Tennie geleiteten Projekts STONECULT, das vom Europäischen Forschungsrat finanziert wird.

Wie die Forschenden gemeinsam mit Dr. Shannon McPherron vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig aktuell in der ERC-Fachzeitschrift „Open Research Europe“ (DOI: 10.12688/openreseurope.13186.2) berichten, haben sie ihre Studie an insgesamt elf Schimpansen in einem Zoo im norwegischen Kristansand und dem Chimfunshi Wildlife Orphanage, einer Schutzstation in Sambia durchgeführt.

www.grenzwissenschaft-aktuell.de
+ HIER können Sie den täglichen kostenlosen GreWi-Newsletter bestellen +

„Scharfkantige Steinwerkzeuge, die von frühen Menschen hergestellt wurden, sind mindestens aus den vergangenen 2,6 Millionen Jahren bekannt – zu Beginn der Steinzeit“, erläutert Elisa Bandini. Das Forschungsteam wollte wissen, ob Schimpansen als einer der engsten lebenden Verwandten heutiger Menschen, die Fähigkeit zur spontanen Herstellung solcher Werkzeuge besitzen. „Das war bisher ausschließlich an sogenannten ‚kultivierten‘ Menschenaffen getestet worden, also Affen die trainiert oder vom Menschen aufgezogen wurden, und denen die Herstellungstechniken von Menschen gezeigt wurden“, sagt Motes-Rodrigo.

Zum Thema

In den neuen Versuchen erhielten untrainierte Schimpansen zwei verschiedene verschlossene Behälter, die – sichtbar durch eine Plexiglasscheibe – Futter enthielten. An dieses konnten sie nur gelangen, wenn sie scharfe Steinwerkzeuge herstellten. Sie erhielten einen sogenannten Steinkern und Hammersteine, um selbst scharfkantige Steine von diesem Kern abzuschlagen. Anders als in allen bisherigen Studien, erhielten die Menschenaffen in der Studie keine Gelegenheit, sich die Herstellung solcher Werkzeuge abzuschauen. „Obwohl die Schimpansen vermutlich verstanden hatten, dass die Behälter Futter enthielten und auch klar motiviert waren, an diese Belohnung zu kommen, machte keines der Tiere im Test auch nur den Versuch, scharfe Steinwerkzeuge anzufertigen“, stellt Claudio Tennie fest. Die Forschenden schließen daraus, dass Schimpansen diese spontane Fähigkeit offenbar nicht besitzen. „Wahrscheinlich können sie dies nur nach intensivem Kontakt mit Menschen und/oder durch Nachahmen erlernen“, sagt Tennie, und fügt hinzu: „Schimpansen befinden sich also, was diese Fähigkeiten betrifft, noch in der Vor-Steinzeit.“

Hintergrund
Zeitgleich mit der Publikation der Studie zur Werkzeugnutzung durch Schimpansen, berichtet ein Forschungsteam der Universität Osnabrück und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie aus Leipzig erstmals über die Beobachtung tödlicher Angriffe von Schimpansen auf Gorillas in freier Wildbahn.

Schimpansen im Loango-Nationalpark. Copyright: Lara Southern, ozouga.org

Schimpansen im Loango-Nationalpark. Copyright: Lara Southern, ozouga.org

Wie das Team um Dr. Tobias Deschner und Prof. Dr. Simone Pika aktuell im Nature-Fachjournal „Scientific Reports“ (DOI: 10.1038/s41598-021-93829-x) berichtet, ereignete sich der Vorfall im Loango-Nationalpark in Gabun, in dem Schimpansen mit Gorillas gemeinsam im gleichen Habitat leben: Zunächst hörten die Forschenden nur Schreie der Schimpansen und dachten, es handele sich um eine typische Begegnung zwischen benachbarten Schimpansen-Gemeinschaften. Doch dann war Brusttrommeln, ein Imponierverhalten, das charakteristisch für Gorillas ist zu hören und es zeigte sich, dass die Schimpansen auf eine Gruppe von fünf Gorillas gestoßen waren. Wie sich zeigte, bildeten die Schimpansen eine Koalition und griffen die Gorillagruppen an, woraufhin die beiden Silberrücken und die Weibchen der Gruppen sich und ihre Kinder verteidigten. Die Silberrücken und mehrere erwachsene Weibchen konnten fliehen, während zwei Gorillakinder ihren Müttern entrissen und getötet wurden. „Unsere Beobachtungen liefern den ersten Beweis dafür, dass die Anwesenheit von Schimpansen einen tödlichen Einfluss auf Gorillas haben kann. Wir wollen nun untersuchen, was die Gründe für die überraschend aggressiven Interaktionen sind“, so Tobias Deschner. „Es könnte sein, dass das Zusammenleben von Schimpansen, Gorillas und Waldelefanten im Loango Nationalpark in Gabun zu stark erhöhter Konkurrenz um Nahrung geführt hat, die sich in Extremfällen in tödlichen Konflikten zwischen den beiden Menschenaffenarten entlädt. Die Verhaltensforscher und Biologen vermuten, dass eine solche Situation auch durch den Klimawandel bedingten Rückgang der Produktivität des Regenwaldes bedingt sein, wie er vor kurzem in anderen Nationalparks in Gabun beobachtet wurde.

Die Abstammungslinien von Menschen und Menschenaffen trennten sich vor rund sieben Millionen Jahren. Die Fähigkeit, scharfe Steinwerkzeuge herzustellen, habe sich wohl erst lange nach dieser Trennung in der menschlichen Linie entwickelt, schreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler abschließend und merken an, dass dafür offenbar bestimmte Fähigkeiten nötig seien, die sich erst in der Evolution unserer menschlichen Vorfahren herausgebildet haben.




WEITERE MELDUNGEN ZUM THEMA
Termitenfischen: Forscher beobachten kulturelle Vielfalt bei Schimpansen 25. Mai 2020
Studie: Der Mensch bedroht das kulturelle Erbe von Schimpansen 13. März 2019
Forscher entdecken neue Schimpansen-Kultur 27. Februar 2019
Schimpansen-Gesten folgen Regeln menschlicher Sprache 14. Februar 2019
Nicht (nur) menschlich: Auch Schimpansen besitzen soziale Kulturen 26. November 2018
Studie: “Menschenaffen wurden jahrzehntelang von der Wissenschaft sträflich unterschätzt” 6. September 2017
Stein-Schere-Papier: Schimpansen erlernen Schnick-Schnack-Schnuck 16. August 2017
Menschenaffen beherrschen doch Grundlagen der Sprache 17. August 2015
Erstaunlicher Fotobeweis: Junge Gorillas demontieren gezielt Schlingfallen im Urwald 1. August 2012
Dem Menschen ähnlicher als gedacht: Forscher entschlüsseln Gorilla-Genom 10. März 2012
Menschenaffen treffen komplexe Entscheidungen 4. Januar 2012

Recherchequellen: Universität Tübingen, Universität Osnabrück

© grenzwissenschaft-aktuell.de