Entdeckung einmal anders: Wie äthiopische Gesandte im späten Mittelalter Europa entdeckten

Geschrieben am 26.05.2021
von Andreas Müller

Lesezeit: ca. 3 Minuten Bochum (Deutschland) – Im allgemeinen Geschichtsbild war es der afrikanische Kontinent, der seit dem späten Mittelalter von Europäern bereits erkundet und „entdeckt“ wurde. Dass es aber auch schon damals Abgesandte aus afrikanischen Ländern Europa bereits und für sich entdeckt haben, war bislang größtenteils kaum bis unbekannt. Ein neues Buch zeichnet ein anderes Bild: Eine Vielzahl […]Lesezeit: ca. 3 Minuten
Titelumschlag des neuen Buches von Prof. Dr. Verena Krebs. Copyright: palgrave.com

Titelumschlag des neuen Buches von Prof. Dr. Verena Krebs.
Copyright: palgrave.com

Bochum (Deutschland) – Im allgemeinen Geschichtsbild war es der afrikanische Kontinent, der seit dem späten Mittelalter von Europäern bereits erkundet und „entdeckt“ wurde. Dass es aber auch schon damals Abgesandte aus afrikanischen Ländern Europa bereits und für sich entdeckt haben, war bislang größtenteils kaum bis unbekannt. Ein neues Buch zeichnet ein anderes Bild: Eine Vielzahl königlich-äthiopischer Gesandtschaften bereiste im 15. und frühen 16. Jahrhundert verschiedenste kirchliche und fürstliche europäische Höfe, von Venedig und Valencia bis Konstanz am Bodensee.

„Die afrikanischen Gesandten hatten den Auftrag, exotisch-religiöse Objekte für den ebenfalls christlichen äthiopischen König zu akquirieren – aus dem fernen, fremden Europa“, erläutert die Autorin Prof. Dr. Verena Krebs, Historikerin und Mediävistin an der Ruhr-Universität Bochum (RUB). „Auf heutigen Karten, die mittelalterliche Regionen abbilden, sind afrikanische Königreiche wie Äthiopien nur selten zu finden. Wenn, dann erscheinen sie meist am Rand der vormodernen Welt – lang nahm man an, dass sie erst im Zeitalter europäischer Entdeckungsfahrten in Kontakt zum christlichen Europa traten.“

Die Historikerin erläutert weiter: „Noch immer gilt das vormoderne Afrika in der populären Wahrnehmung häufig als der geschichtslose Kontinent. In Geschichtsbüchern taucht es, wenn überhaupt, erst dann auf, wenn es von Europäern entdeckt und bereist wird – seine Geschichte wird häufig auf Versklavung und Kolonialisierung reduziert. Diese Fehlannahme hat ihre Wurzeln in den Anfängen der Afrikaforschung: Europäische Historiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sprachen den vorwiegend mündlich geprägten Kulturen des Kontinents ab, Schriftquellen zu ihrer Historie zu besitzen. Und wo keine Quellen, da auch keine Geschichte, so das verfrühte Urteil. Als Folgen dieses Geschichtsbilds konnte ein ganzer Kontinent als Spielball westlicher Mächte verstanden werden – teils bis heute.“

In ihrem Buch „Medieval Ethiopian Kingship, Craft, and Diplomacy with Latin Europe“ deckt Krebs die Schwächen dieses geschichtlichen Mythos auf. Aufbauend auf neuen Strömungen in der Mediävistik und Afrikanistik stellt sie bisher geltende Grundüberzeugungen auf den Kopf: „Ihre Untersuchung der diplomatischen Beziehungen des christlichen Königreichs Äthiopien im 15. und 16. Jahrhundert zeichnet das Bild eines selbstbewusst agierenden afrikanischen Großreichs, das den europäischen Mächten seiner Zeit nicht als Bittsteller entgegentritt, sondern als selbstbestimmter, gleichwertiger Partner.“

Wie die Wissenschaftlerin aufzeigt, belegen die Quellen, dass die lokalen europäischen Herrscherhäuser reihenweise um die Gunst des erträumten christlichen Wunderreichs am Horn von Afrika buhlten, wenn äthiopische Pilger und Gesandte im Auftrag ihres Königs vom Bodensee bis zur spanischen Atlantikküste zogen. Für die Mediävistin eine klare Verkehrung angenommener Machtstrukturen: „Eine Dynastie afrikanisch-christlicher Könige behandelt hier Europa im späten Mittelalter als eine Art exotischen Souvenirladen. Für sie scheint es darum zu gehen, möglichst viele religiöse Kostbarkeiten aus dem fernen, fremden Europa zu besorgen, welche später lokal als Zeichen des globalen christlichen Herrschaftsanspruchs der äthiopischen Könige genutzt werden.“

Mit ihrer Einschätzung bricht Krebs mit etablierten Forschungsmeinungen. Vor allem in der Forschung des 20. Jahrhunderts war man davon ausgegangen, frühen äthiopischen Gesandtschaften sei es vornehmlich um Waffen und militärische Unterstützung gegen die muslimische Bedrohung aus dem Norden Afrikas gegangen. Diese Einschätzung basiere vornehmlich auf Übersetzungsfehlern: „Eine Vielzahl von lang bekannten Quellen belegt, dass die äthiopischen Könige neben Reliquien und religiösen Objekten vor allem an Handwerkern aus Europa interessiert waren.“

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Daraus hat man in den 1940er-Jahren geschlossen, dass hier ein afrikanisches Reich Waffenschmiede gefordert haben musste, um sich gegen die muslimischen Mameluken in Ägypten zu verteidigen. „Dass im äthiopischen Hochland parallel zu den Gesandtschaften ein wahrer Bauboom herrschte, mit dem Könige sich durch prestigeträchtige Kirchen und Klöster die lokale Macht sicherten, konnten sich die frühen Forscher einfach nicht vorstellen. Dabei spiegelten die weitläufige Diplomatie wie auch die fremden Objekte und Handwerker der äthiopischen Könige bewusst die Handlungen des biblischen König Salomos wider – als dessen wahre Erben sie sich in ihrem dynastischen Selbstbild verstanden.“

Anhand akribischer Studien von Quellen aus Äthiopien, Ägypten, dem ehemaligen Königreich von Aragon bis hin zum Archiv des Vatikans lässt Verena Krebs ein fast vergessenes Reich auferstehen, dass sich selbst als Zentrum einer spätmittelalterlichen christlichen Welt wahrnimmt. Auf diese Weise eröffnet die Historikerin einen neuen Blick auf eine geschichtliche Weltkarte, die weit über den angenommenen Rand der Welt des Mittelalters hinausgeht. „Das spätmittelalterliche Äthiopien verfolgte eine ganz eigene Entdeckungsgeschichte auf Basis lokaler politischer Ziele. Was wir hier sehen, ist in Wahrheit eine afrikanische Entdeckung Europas zu eigenen Konditionen und für ganz spezifische regionale Zwecke – was wiederum unseren Blick auf das Verständnis der Zeitperiode grundlegend verschieben muss”, so Krebs in einem ausführlichen Interview gegenüber der BBC.




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Quelle: RUB

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